„Ihr habt ja Tinte gesoffen!“
03.07.2021

Dienstagmorgen 11 Uhr nach Schützenfest: Es tagt das Hohe Biergericht des Lippstädter Schützenvereins! Es erinnert sich einer, der dabei war ...

Lippstadt – Dieses Biergericht, auch Schützengericht genannt, ist eine alte und Legenden umwobene Institution. So sehr Legenden umwoben, dass es von anderen Vereinen der näheren und weiteren Umgebung im Laufe der Jahrzehnte kopiert wurde. Aber: Eine Kopie ist kein Original! Und wie es im Biergericht des Lippstädter Schützenvereins zugeht, das lässt sich am besten an einigen wahren Begebenheiten erzählen. Wichtige Vorbemerkung zum Verständnis des Ganzen: Frauen haben bei dieser Veranstaltung keinen Zutritt. Nicht etwa, weil man die holde Damenwelt nicht schätzt, sondern weil hier die raue und oft derbe Welt der Männer vorherrscht.

Gegenstand der Gerichtsverhandlung sind Verfehlungen der Schützen während des Festes. Es soll auch vorgekommen sein, dass „Straftaten“ konstruiert wurden, um einen vor den Kadi zu zerren. Bei manchen Schützenbrüdern ist der Posten im Verein oder die prominente Stellung in der Stadt ein Grund, um vor den Schranken des Gerichts erscheinen zu müssen.

So standen vor vielen Jahren einmal zwei Obristen vor dem Hohen Gericht: der scheidende Oberst Hubertus Linhoff und der neue Oberst Michael Girke. Die Anklage muss wohl so massiv gewesen sein, dass im Zuge der Befragung der Beschuldigten der gefürchtete Scharfrichter inklusive Richtschwert auftrat. Beide Angeklagten waren geständig und einsichtig, so dass der Scharfrichter nicht aktiv werden musste. Allerdings war die Höchststrafe fällig: Jeder Angeklagte hatte eine Saalrunde zu zahlen. Und außerdem wollte man den Schützenbrüdern nicht zumuten, bei der nächsten Generalversammlung wieder einen Oberst zu wählen. Der Scharfrichter war übrigens der damalige Bürgermeister Wolfgang Schwade.

In Erinnerung geblieben ist auch der Fall mit dem damaligen Festwirt. Er hatte am Schützenfestsonntag einen unbescholtenen Schützen derart mit Mixgetränken abgefüllt, dass dieser aus dem Verkehr gezogen werden musste. Der Angeklagte war geständig, zeigte aber keinerlei Reue. Also bestand die Strafe darin, dass er per „Druckbetankung“ genau die Menge an Mixgetränken konsumieren musste, die er dem armen unbescholtenen Schützen zwei Tage vorher verabreicht hatte. Nach der Prozedur, die in wenigen Minuten vollzogen wurde, musste der Festwirt von mehreren Gerichtsdienern abtransportiert werden. Sein Name und jegliche Ortskenntnisse waren vorübergehend aus seinem Gedächtnis entschwunden.

Und dann war da noch jener bekannte und prominente Schützenbruder, der jedes Mal, wenn er vor die Schranken des Biergerichts zitiert wurde, empört ausrief: „Ihr habt ja Tinte gesoffen!“ Das allein reichte ja für eine Bestrafung aus. Da dieser Schützenbruder auch der Chef des Lippstädter Zeitungswesens war, wurde er ganz einfach für die Zeit des Biergerichts als Oberkellner verpflichtet. Eine aufreibende Tätigkeit bei ungefähr 120 anwesenden und – wieder – durstigen Schützen.

Unvergessen auch die Mumifizierung eines ehemaligen Königs und seines Hofstaats als Pharao. Oder die Formalübung des richtigen Paradeschritts unter Anleitung des damaligen Hauptmanns der zweiten Kompanie, der in dieser äußerst wichtigen Disziplin ein wahrer Meister war.

Das Biergericht des Lippstädter Schützenvereins hat Geschichte und Geschichtchen geschrieben. Hoffen wir, dass trotz der Folgen der Corona-Pandemie diese Tradition fortgesetzt werden kann. Für diejenigen, die das alles erlebt haben, ist diese Veranstaltung auch ein Teil der Schützenkultur.

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